Stillen | Weltweit

Wie Du stillst nicht | Du stillst Dein Kind immer noch?

Diese und andere Fragen hört und liest man immer wieder. Bei den Fragen rund um das Stillen, Teilstillen, Nichtstillen, Kürze oder Länge der Stillbeziehung, gibt es viele Meinungen, Ratschläge, kritische Nachfragen.

Die bunte Welt des Stillens erleben wir Stillberaterinnen in unseren Beratungen und Kursen tagtäglich. Je mehr Mütter auf einander stoßen, je mehr Kulturen, desto schwerer fällt es manches Mal Verständnis für einander aufzubringen. Dabei wäre dies gerade für Mütter so wichtig. Nicht nur Stillberaterinnen auch Müttern, könnte für mehr Verständnis helfen über den Tellerrand zu schauen, nicht nur bezogen auf Traditionen und kulturelle Zusammenhänge rund um das Stillen.

Denn unser lokales Selbstverständnis über das Stillen, die Beikost, Ernährung, Eltern-Kind-Beziehungen, Erziehung usw. kann bereits um die Ecke, in einem Nachbarland bzw. in Ländern weltweit, sehr von den uns bekannten Traditionen abweichen. Und auch unsere nationalen Traditionen ändern sich über die Zeit. Was vor 20zig Jahren „üblich“ war, ist vielleicht heute verpönt, nicht mehr gängig und doch wird jede Familie aufgrund ihrer Erfahrungen, ihrer persönlichen Geschichte, ihres Umfeldes, ihres Informationsstandes etc. einen individuellen Weg begehen.

Für Menschen aus anderen Kulturen, die in unserem Land leben, können unsere Handlungsweisen ebenso ungewöhnlich sein, wie für Menschen die in Deutschland aufgewachsen sind und mit anderen Kulturen in Kontakt kommen. Der Blick über den Tellerrand, ermöglicht uns zum Einen unser Wissen zu erweitern, Verständnis zu entwickeln, aber zum anderen auch unsere Traditionen und gesellschaftlichen Ansprüche zu hinterfragen, ganz im Sinne von unseren Kindern.
Schauen wir uns beispielsweise die Dauer der Stillzeit an, stößt man schnell auf die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Diese empfiehlt für Säuglinge weltweit, die mit Normalgewicht geboren und gesund sind, diese bis zum 6. Monat ausschließlich zu stillen, um dann je nach Beikostreife unter dem Schutz des Stillens Beikost einzuführen und folgend bis zum Ende des zweiten Lebensjahres und darüber hinaus weiter zu stillen (LINK).

Diese Empfehlungen gelten weltweit, doch variieren die Stillraten in den Ländern enorm. Schaut man auf Europa, wurden laut der WHO in den Jahren 2006-2012 lediglich 25 % der Säuglinge in den ersten 6 Monaten voll gestillt, während z.B. in Südostasien ca. 43 % in dieser Zeit vollgestillt wurden.Mehr zur Stillrate HIER (Link)

Die Nationale Stillkommission in Deutschland spricht von seit Jahren stagnierenden 10 % an Säuglingen, die bis Ende des 6. Monats vollgestillt werden (ca. 48 % teilweise), wobei 91 % zu Beginn gestillt wurden.(Link Stillen in Deutschland)

Ähnlich sieht es im Nachbarland Österreich aus, wie diese Graphik und der begleitende Artikel unserer Kollegin Ingrid Zittera zeigt. (Link Stillen in Österreich)

Stillen Österreich


Wie verschieden die Stillraten in Europa sind, verdeutlicht die folgende Grafik sehr anschaulich: https://www.dred.com/de/der-baby-atlas/

Stillatlas

Beispielsweise ist die Stillrate im an Deutschland angrenzenden Frankreich mit ca. 20 % vergleichsweise sehr gering. Dies hängt zum Einen damit zusammen, dass die Mütter sehr früh nach der Geburt nach ca. 16 Wochen wieder in den Beruf zurückkehren, zum Anderen damit, dass die Meinung herscht, das längeres Stillen sich mit der Gleichberechtigung und Emanzipation der Frauen nicht vertragen.

(Link Frauen und Stillen)

Schaut man hingegen nach Abu Dhabi, dann stellt man fest, dass dort 2014 ein Gesetz verabschiedet wurde, welches Mütter verpflichtet 2 Jahre zu stillen. (Link Stillen in Abu Dahbi)

So verschieden die Länder, so verschieden die Herangehensweise und gesellschaftliche Verankerung der Ernährung der Kinder. Die Hintergründe sind selbstverständlich sehr vielfälltig: verschiedene Religionen, Ressourcen, gesellschaftliche und kulturelle Historie, Bildung, Gesundheitssystem uvm beeinflussen Mütter weltweit, selbstverständlich auch rund um das Stillen oder Nichtstillen.

Zum Beispiel veränderte die Einführung von künstlicher Säuglingsnahrung, die Stillraten in den westlichen Industrienationen im 20zigsten Jahrhundert grundlegend. Verkauft als fortschrittliche Alternative zu Muttermilch, sanken die Stillraten erheblich. Viele Studien, nationale Programme mussten folgen, um die Vorteile des Stillens (siehe unseren Beitrag Link)

bzw. der Muttermilchgabe wieder gesellschaftlich präsent zu machen, Akzepetanz zu schaffen und somit Pro-Muttermilch bzw. Pro-Stillen Empfehlungen zu verbreiten.

Wie verschieden kulturelle Hintergründe sich äußern zeigt sich auch am Beispiel der Kolostrumgabe:
Zum Beispiel beschreibt Michel Odent in seinem Buch Geburt und Stillen, dass in Asien und westlichen Kulturen die weitverbreitete Meinung herrscht, dass Kolostrum schlecht für das Baby ist. Daher wird seit Jahrhunderten das Kolostrum verworfen und stattdessen beispielsweise in Japan Jumi Gokoto, ein Elixier aus Nüssen und Kräutern, gegeben.

Auch in Indien eine uralte Tradition, so dass dem Säugling statt Kolostrum eine Mischung aus Honig, Ghee, Pflanzensaft und Goldstaub angeboten wird.

Schaut man nach Kenia, wird den Säuglingen Butterfett und Ziegenmilch angeboten.
In Kongo wird dem Säugling Kräutertee gegeben, gefolgt von Kräutermischungen mit Bananenbrei.

(Link Süddeutsche)

Traditionen, die in westlichen Ländern unvorstellbar sind und hierzulande sicher auf Unverständnis stoßen würden. Ebenso, wie die Gabe von Kolostrum oder das direkte Anlegen des Babys nach der Geburt, für Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund nicht verständlich sind.
Doch kann die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Traditionen und Herangehensweisen, das Verständnis der Mütter untereinander fördern und helfen möglicherweise entspannter mit der eigenen Stillbeziehung umzugehen und die sogenannte „Normalität“ in Frage zu stellen.

Einen wunderbaren Beitrag hat der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster verfasst, der sich mit der Frage nach dem Langzeitstillen ausführlich beschäftigt hat und damit einen weiteren Anstoß gibt über die in Deutschland vorherrschende gesellschaftliche „Normalität“ zumindest nachzudenken. (Link)

 

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